Zeitzeugen über Otto Siffling

Zeithistorische Dokumente aus Sportzeitschriften, Zeitungen oder Mitteilungsblättern lassen uns zwar erahnen, wie das Leben des Sportlers und Menschen Otto Siffling ausgesehen hat. Richtig lebendig wird die Erinnerung an den wohl größten Fußballer, den unser Sportverein jemals hervorgebracht hat, aber erst durch die Erinnerung der Menschen, die ihn zu Lebzeiten persönlich kennen lernen durften. Deswegen wurden im Vorfeld des 100-jährigen Jubiläums Sifflings mit einigen Zeitzeugen Interviews geführt. Es konnten sehr interessante Gespräche mit  Werner Brückl, Manfred David, Karl Ramge, Ludwig Siffling,  Walter Spagerer und Karl Ziegler geführt werden.

Sifflings fußballerisches Talent

Im Vordergrund aller Erinnerungen an Otto Siffling steht natürlich sein einmaliges fußballerisches Können, was ihn auszeichnete. Sifflings Ballbehandlung und Spielverständnis waren außergewöhnlich, da sind sich alle Zeitzeugen einig. „Einmalig, am Ball hat er alles gekonnt!“, so sein Cousin Ludwig Siffling und fügt an, dass sich das nicht nur auf den Fußball beschränkte: „Der beherrschte alles was rund ist. Beim Billard war er auch Spitze. Und er hat mit Hans Tauchert Tennis gespielt. Tauchert hat ihm das Tennis spielen beigebracht und dann hatte er keine Chance mehr gegen ihn.“
„Bei jedem Spiel hast du was vom Otto lernen können. Im Spielgeschehen gab es immer eine Situation von der man sagen konnte, das kann nur er“, erinnert er sich weiter und Ottos ehemaliger Mitspieler Karl Ramge bestätigt dies: „Beim Tauchert sind Spielzüge einstudiert worden und die wurden zum großen Teil, wenn es möglich war, auch durchgeführt. Nur der Otto Siffling war der Einzige, der eine eigene Note ins Spiel gebracht hat, Ballbehandlung etc. In der Ballbehandlung war er in jeder Situation mit Abstand der Beste.“
Auch Waldhof-Urgestein Walter Spagerer erinnert sich lebhaft an die einmaligen Fähigkeiten der Mannheimer Stürmerlegende: „Otto Siffling war ein begnadeter Fußballer. Technik und Spielverständnis einmalig. Er war ein Naturfußballer. Man hätte glauben können der Ball klebte ihm an den Füßen. Und auch seine Spielauffassung, das Spiel dirigieren zu können. Der hat mit seinen Vorlagen, seinen passgenauen Vorlagen, seine Mitspieler zu Torchancen gebracht, wie selten einer.“ Mit diesen technischen Voraussetzungen machte er mögliche körperliche Defizite im Duell mit seinen Gegnern wett, ist sich Spagerer sicher: „Der Otto Siffling war körperlich nicht stark, er war schmal, aber gelenkig wie sonst was, beweglich und hatte in seiner Ballbehandlung einmalige Fähigkeiten.“
Und auch Seppl Herberger war von dem talentierten Waldhöfer sehr angetan, weiß Manfred David zu berichten: „Als ich mich später mit Seppl Herberger über Otto Siffling unterhielt, da sagte er, er habe nie so einen talentierten Spieler gesehen und einen, der die Situationen, er weiß nicht wie, so schnell erkannte, wie der Otto Siffling.“
Radfahrlegende und Sportlerkollege Karl Ziegler vermutet sogar, dass Siffling mit seinem Talent auch heutzutage zu den ganz großen Fußballern zählen würde: „So ein Edelstein, den würde man heute mit Gold aufwiegen, aber so etwas hat es damals halt nicht gegeben.“

„Der Holz“

In Gesprächen mit Zeitzeugen, genauso wie in Textdokumenten, fällt immer wieder auf, dass Otto häufig mit dem Spitznamen „Holz“ genannt wurde. Warum, dass kann heute niemand mehr mit Sicherheit sagen. Möglicherweise hängt es mit einer weiteren Eigenschaft Sifflings zusammen, die er auf dem Fußballplatz neben seiner technischen Versiertheit und seinem Spielverständnis an den Tag legte, nämlich seinem recht harschen Umgang mit Mitspielern. „Warum er Holz genannt wurde? Das muss daran gelegen haben, dass er ein bisschen ‚holzig‘ war“, lautet Werner Brückls knappe Analyse und Walter Spagerer konkretisiert diese Einschätzung: „Das gab es schon mal, dass er auf dem Spielfeld den ein oder anderen angefahren hat. Aber das war etwas, was man bei den Waldhöfern und den Zuschauern an sich ohne weiteres hinnehmen konnte.“ Cousin Ludwig Siffling erinnert sich: „Man hat schon gesehen, dass der Otto eine Persönlichkeit auf dem Sportplatz war. Wenn ein Mitspieler nicht das gebracht hatte, was er erwartete, da ist er schon mal ein bisschen unangenehm geworden.“ Und Ottos ehemaliger Mitspieler Karl Ramge bekam seine Direktheit sogar einmal persönlich zu spüren: „Ich habe linker Läufer gespielt und ich weiß nicht mehr genau, ich glaube, ich habe ihm einen Pass zugespielt. Auf jeden Fall hat er zu mir gesagt: „Du musst erst einmal kicken lernen.“ Was hätte ich da als Junger sagen sollen? Es war damals eine Ehre für mich in der Mannschaft mit Siffling spielen zu dürfen. Das war schon was.“

Ein Fußballverrückter und ein treuer Waldhöfer

Fußball, das war Sifflings Leidenschaft, dafür lebte er und darauf fokussierte er sich auch schon im Schulalter. „Der Ottl wollte ja kein Abitur machen, der wollte Tore schießen.“ (Karl Ziegler) Und die wollte er nicht für irgendwen schießen, sondern ausschließlich für seinen Heimatverein, den SV Waldhof 07. „Er hätte nie daran gedacht zu einem anderen Verein zu wechseln. Vom Waldhof wegzugehen, dass hätte er wahrscheinlich gar nicht übers Herz gebracht. Er war ein Waldhöfer und ist ein Waldhöfer geblieben“, berichtet Werner Brückl und Karl Ziegler erinnert sich sogar noch daran, dass Siffling auf die Frage „Willst du nach Barcelona?“ entschieden mit den Worten „Ich bin Waldhöfer und ich bleibe Waldhöfer!“, geantwortet habe.

Der „Antistar“ Siffling

Neben seiner großen Verbundenheit zum SV Waldhof, zeichnete Siffling auch aus, dass er auch in den Zeiten des Erfolgs stets bescheiden blieb, die Öffentlichkeit meist scheute und keinerlei Starallüren zeigte.
„Er war extrem zurückhaltend. Er war nicht von der Öffentlichkeit geprägt. Wenn man Bilder mit ihm sieht, da ist er immer im Hintergrund“, erinnert sich Karl Ziegler und ergänzt umgehend, „dass es nicht so leicht für einen Mann wie ihn war in Mannheim zu leben. Wenn der in Mannheim ausgegangen ist, haben alle gleich gesagt ‚Da, der Holz, da vorne läuft er‘, und haben geschaut was er macht. Und er hat sich dann immer irgendwo verdrückt. Jeder hat ihn gekannt und geliebt. Der hat uns alle angezogen wie ein Magnet.“
Starallüren, die gab es bei Siffling dennoch nicht. „Der Otto Siffling wollte nicht so im Mittelpunkt stehen. Er war ein solider Mensch, der seine Eigenheiten hatte, der aber auf der anderen Seite auch keineswegs bereit war Starallüren an den Tag zu legen. Er war ein kerniger Mensch, der an und für sich nicht dazu neigte etwas Besonderes aus sich machen zu wollen, sondern er war Fußballer, Waldhöfer und wollte auch nicht mehr sein“, betont Walter Spagerer und Karl Ramge schlägt in dieselbe Kerbe: „Der Otto Siffling war [...] kein Plauderer. Und bescheiden, trotz allem. Starallüren gab es nicht beim Holz.“ Selbst in der Stunde seines größten Erfolgs, nach seinen 5 Treffern im Länderspiel gegen Dänemark, änderte sich das nicht. „Eines konnte man da auf jeden Fall feststellen, der Otto Siffling vor dem Breslauer Spiel war der gleiche, wie der Otto Siffling nach dem Breslauer Spiel.“ (Walter Spagerer)
Sifflings Zurückhaltung äußerte sich auch in seinem Umgang mit der Presse. „Journalisten? [...] Da war er auch nicht der Mann dafür. Der ist ja ausgerissen, wenn er einen Journalisten gesehen hat. Der war froh, wenn niemand was gewollt hatte. Der hat seinen Ball gehabt und den hat er angezogen wie ein Magnet“, schildert Karl Ziegler, dass sich Siffling stets auf das Wesentliche, nämlich den Fußball, konzentrieren wollte.
Vielleicht war es aber gerade diese Bescheidenheit und Bodenständigkeit, die Otto Siffling bei seinen Zeitgenossen so beliebt machte. Sein ehemaliger Mitspieler Karl Ramge bewunderte ihn zum Beispiel gerade deswegen: „Er war für uns ein Star, im positiven Sinne. Der ‚Holz‘ hätte uns eine hingetreten, wenn wir gesagt hätten „Du bist ein Star!“. Und Manfred David hält Siffling sogar für einen Antistar: „An und für sich war er ein Spieler, der keine Starrolle ausstrahlte, sondern eher einer, der die Starrolle verneinte. Ein Antistar, der wortkarg war und bescheiden in die Kabine lief ohne sich dann groß feiern zu lassen oder den Zuschauern Kusshändchen zuzuwerfen. Das lag ihm sicher nicht. Er war ein ganz stiller, bescheidener Mensch, der sich innerlich mehr über seine Leistungen freute, die er vollbracht hatte.“

Siffling und Politik

Fußball und Politik, das lässt sich zu Sifflings Zeiten nicht getrennt voneinander betrachten, da die Erfolge der Nationalmannschaft von den Nazis in beispielloser Art und Weise für ihre Propaganda (aus)genutzt wurden. Und auch Otto Sifflings Karriere, die nun einmal in den 30er Jahren stattfand, war davon natürlich nicht befreit. Ob er sich nun bewusst zur Ideologie des Nationalsozialismus positionierte oder ihm Politik schlichtweg „egal“ war, darüber gibt es unterschiedliche Ansichten unter den Zeitzeugen. Ludwig Siffling hat hierzu eine klare Meinung: „Eins ist sicher, der Otto war kein Nazi. Bei Empfängen und solchen Anlässen hat er sich meist im Hintergrund gehalten, auch was die Nationalmannschaft betrifft.“ Manfred David spricht Siffling dagegen jegliches politisches Interesse ab: „Er war kein politischer Kopf. Der Mann kannte nur seinen Fußball und damit war es aus und das reichte ihm vollkommen zur Befriedigung. Wie das beim Herberger in der gleichen Weise der Fall war. Der kannte auch nur Fußball und wusste, dass der Ball rund ist und damit Schluss.“

Der Privatmann Otto Siffling

Über Otto Sifflings Privatleben ist nicht viel bekannt, kein Wunder, er sprach ja auch nicht viel in der Öffentlichkeit und hätte wohl auch gar nichts Außergewöhnliches über sich erzählen können, meint sein Cousin Ludwig: „Der hat gelebt wie jeder junge Mann auch. Der hat Kumpels gehabt. Die haben zusammen Fußball gespielt, die haben zusammen Skat gespielt, die haben zusammen im Gesellschaftshaus Billard gespielt. Da war gar nichts Besonderes dabei.“
Mannheims Radfahrlegende Karl Ziegler bestätigt dies, weiß aber auch über eine andere Seite des sonst so wortkargen Ottos zu berichten: „Mit ein paar Kumpels abends zusammensitzen, ein bisschen Karten spielen – er war ein guter Skatspieler – Zigaretten rauchen, nicht früh heimgehen, aber dafür spät aufstehen. Ein großartiger Bursche! Im Freundeskreis, da hat er gesprochen. Da ist er aufgetaut, aber sonst war er introvertiert.“ Außerdem habe er „gerne einen Schluck getrunken, aber niemand hat ihn je betrunken gesehen.“ Besonders gut verstand er sich mit Ernst Heermann: „Mit dem Heermanns Ernst war er sehr eng befreundet. Beide haben beim Waldhof gespielt. Beide sind als Freunde auch zusammen ausgegangen. Deswegen, wenn man den Siffling in der Stadt gesehen hat, da war immer der Heermanns Ernst dabei. Der hat in der Lortzingstraße gewohnt. Das waren richtige Freunde. Der hat den Siffling immer ein bisschen abgedeckt.“ (Karl Ziegler)
Und wie stand es mit den Frauen bei Otto Siffling? „Ein Frauenheld war er meines Erachtens nicht. Frauengeschichten hat der bestimmt keine gehabt“, meint Werner Brückl und verweist auf ein konkretes Beispiel: „Der ‚Holz‘ hatte ein Auge auf meine Tante geworfen. Die hieß Mariele. Aber die hat den ‚Holz‘ gekannt und das ist nichts geworden.“

Früher Tod und bewegende Trauerfeier

Otto Siffling durfte nur 27 Jahre alt werden, ehe er 1939 an einer Rippenfellentzündung verstarb. Sein Tod löste große Trauer aus in Mannheim und deutschlandweit. „Uns Mannheimer Sportler hat der Tod von Otto Siffling tief berührt“. (Karl Ziegler)
Zeitgenossen, die an seiner Trauerfeier teilnahmen, berichten von einem sehr bewegenden Ereignis. „Die Beerdigung damals war riesig. Für uns junge Spieler war er der Spieler. Wir haben ihn ja fast Heilig gesprochen.“ (Karl Ramge) Der Waldhof und ganz Mannheim nahm in einem würdigen Rahmen von seiner Stürmerlegende Abschied. So viele Leute wollten Anteil nehmen, dass der Platz auf dem Friedhof nicht ausreichte. „Für mich persönlich die größte Trauerfeier die ich je erlebt habe. Auf dem Mäuerchen vom Käfertaler Friedhof waren sie ringsum gestanden.“ (Ludwig Siffling)

Legende und Vorbild

In diesem Jahr würde Otto Siffling 100 Jahre alt werden. Diejenigen, die ihn persönlichen kennen lernen durften, schwärmen noch heute von ihm. Karl Ziegler adelt Siffling mit den Worten „Das war eine Lichtgestalt! Der Siffling war für uns ein Gott im Fußball“ und hebt noch einmal seine überaus hohe Beliebtheit in der Mannheimer Bevölkerung hervor: „Ein Fußballspieler, eine Legende Mannheims zum lieb haben!“
Der ehemalige Mannheimer Sportbürgermeister Manfred David verweist darauf, dass es nicht nur Ottos fußballerischen Leistungen, sondern vor allem seine Bescheidenheit waren, die ihn zu einem der größten Sportler Mannheims und einem Vorbild für andere machten. „Das war imposant, wenn einer so bescheiden durch die Welt geht, trotz großer Leistungen, die er erbringt. Das war bei Otto Siffling so der Fall. Ein gutes Vorbild für die Jugend würde ich sagen!“

Die Zeitzeugen

Werner Brückl

geboren am 30. Oktober 1929 in Mannheim. Sohn des 1931 27-jährig verstorbenen SV Waldhof-Spielers Albert Brückl. Er war selbst für den SV Waldhof aktiv und später auch als Trainer tätig und trainierte u.a. Günter Sebert. Er ist Träger des Ehrenrings in Gold des SV Waldhof Mannheim 07. Sein Stiefvater war mit Otto Siffling befreundet.

Manfred David

geboren am 13. September 1926 in Groß Wartenberg/Niederschlesien. Sport-, Schul- und Kulturbürgermeister, sowie Erster Bürgermeister der Stadt Mannheim a.D.; ehemaliges Präsidiumsmitglied und Träger des Goldenen Ehrenrings mit Brillant des SV Waldhof Mannheim 07 e.V. War als 10-jähriger beim legendären 8:0-Sieg der Breslau-Elf im Stadion und sah dabei Otto Siffling 5 Tore erzielen.

Karl Ramge

geboren am 02. Dezember 1920 in Mannheim. Aktiver Spieler in den Jahren 1938 bis 1942 sowie 1949 und 1950. War Teilnehmer im Finale um den Tschammerpokal 1939 am 28.04.1940 in Berlin, welches der SV Waldhof mit 2:0 gegen den 1. FC Nürnberg verlor. Spielte in zwei Spielen an der Seite von Otto Siffling.

Ludwig Siffling

geboren am 07. Oktober 1921 in Mannheim. Cousin von Otto Siffling. Zählte von Anfang der 40er Jahre bis Anfang der 50er Jahre zu den gefährlichsten rechten Außenstürmern. Er stand im Kader beim Endspiel um den Tschammerpokal 1939, kam jedoch nicht zum Einsatz. Ludwig Siffling ist Träger des Ehrenrings in Gold des SV Waldhof Mannheim 07.

Walter Spagerer

geboren am 02. November 1918 in der Oppauer Straße auf dem Waldhof. Spielte in den Kriegsjahren 1943/44 in der ersten Mannschaft des SV Waldhof. Von 1977 an für 19 Jahre Präsidiumsmitglied. Er ist eines von acht Mitgliedern die alle Ehrenauszeichnungen des SV Waldhof Mannheim 07 erhalten haben, u.a. den Goldenen Ehrenring mit Brillant. Anlässlich seiner 80-jährigen Vereinsmitgliedschaft wurde im Carl-Benz-Stadion sein Platz mit seinem Namen versehen. Er war Mitglied im Mannheimer Gemeinderat und Landtagsabgeordneter in Baden-Württemberg. Träger des Verdienstkreuzes am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik und des Verdienstkreuzes 1. Klasse am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik. Kannte Otto Siffling persönlich und sah ihn in vielen Spielen des SV Waldhof 07.

Karl Ziegler

geboren am 01. Dezember 1919 in der Mannheimer Hedwigsklinik. Er war in den 30er und 40er Jahren erfolgreicher Radrennfahrer. Gilt als Entdecker von Rudi und Willi Altig. 1969 bis 1971 und 1976 bis 1980 bekleidete er das Amt des Radsportbundestrainers. Kannte Otto Siffling persönlich und sah ihn bei Spielen des SV Waldhof.

Text: Daniel Gamer
Biografische Informationen zu den Zeitzeugen: Carlo Peduto-Brixner
Die Interviews führten: Mario Tripodi, Bernd Dietrich, Martin Willig und Ivo Jurlina