Otto Siffling – unvergessener Stürmer

so schrieb Dr. Paul Laven 1952

Neue deutsche Stürmertalente stehen auf. Wie Max Morlock etwa, der im letzten Spiel gegen die Türkei zwei Tore schoß. Aber unentwegt sucht der Bundestrainer Sepp Herberger nach weiteren „Vollstreckern“ für unsere Nationalmannschaft. Warum eigentlich? Haben wir nicht Fritz Walter? Ja und Nein! Seine Rolle des die Chancen öffnenden „Pendlers“ könnte zur Zeit wohl keiner besser spielen. Und unsere Nationalelf braucht ihn, braucht ihn dringend sogar. Nur so fragt man sich gelegentlich, würde ein ausgesprochener Vollstrecker dem Posten des Mittelstürmers nicht doch besser gerecht – ein Mann wie Otto Siffling beispielsweise? Noch heute steht sein Name unauslöschlich in unserer Erinnerung, nachdem er im stolzesten Jahr unserer früheren Nationalmannschaft (1937) den Sturm durchgeführt hat und schon vor zwölf Jahren, eben 27 Jahre alt, von uns gegangen ist.
Der Mannheimer Otto Siffling, einer von den ganz Großen des deutschen Fußballs, der 1940, siebenundzwanzigjährig gestorben ist.
Siffling, einer der größten deutschen Fußballspieler, stammte aus der berühmten Waldhofschule, aus der ja auch Sepp Herberger kommt. Und Sepp Herberger war es, der Siffling in erster Linie als Mittelstürmer entdeckte. Fünfzehnmal hatte Siffling, der in 31 Länderkämpfen dabei war, Halbstürmer gespielt. Immer schweigsam und bescheiden. In Mannheim nannten sie ihn deswegen „Holz“. Als ich dort nach den Olympischen Spielen 1936 einen Vortrag hielt, wurde nach dem populärsten Sportsmann der Stadt verlangt, und Otto Siffling trat schließlich auf die Szene, um mit mir ein kurzes Gespräch zu führen. Außer „Ja“ und „Nein“ und mancherlei Gemurmel hörten die Besucher im Saal nur einen einzigen Satz, der hieß: „Am liebsten spiele ich Mittelstürmer.“ Das war noch vor den großen Kämpfen, in denen der Mannheimer schließlich den deutschen Angriff führte.
1934 hatte man den damals 21jährigen als Halbstürmer in die Mannschaft gestellt, die an der Fußballweltmeisterschaft in Italien teilnahm. Gegen Belgien schoß er gleich das Siegestor zum 3:2. Er war gegen Schweden in Mailand beim 2:1 dabei, bei dem vielbejubelten 1:3 gegen die Tschechoslowakei in Rom und gegen Österreich beim 3:2 am Fuße des Vesuv, als wir das damals nicht mehr auf der Höhe seines Glanzes stehende „Wunderteam“ schlugen.
Warum aber stellte Otto Nerz Siffling seiner Zeit nur zweimal als Mittelstürmer auf? Einmal in einem der berühmtesten Kämpfe unserer Nationalmannschaft in der Vorkriegszeit oder überhaupt in der Geschichte unseres Fußballsports, als wir in Glasgow im Herbst 1936 0:2 unterlagen. Damals war der bestimmende Mann im Angriff Fritz Szepan, Siffling ordnete sich ein. Man durfte aber erwarten, daß dieser Spieler, ein wirklicher „Instinktfußballer“, sich auf dem Mittelstürmerposten mit sehr viel stärkerer Originalität und weithin dringender Leistung einordnen würde, wenn er seine Anlaufzeiten hinter sich habe. Nun, Otto Nerz hatte eine kluge Begründung zur Hand: „Spieler mit der Technik Otto Sifflings sind mir auf der Halbstürmerposition wertvoller!“ Dann aber, als im Frühjahr 1937 wiederum nach der deutschen „Sturmspitze“ gesucht wurde, weil seit Edmund Conens Ausscheiden im Jahre 1935 für den Posten des Mittelstürmers immer noch kein Standardmann gefunden war, wußte man von einem Gespräch zu berichten, das Herberger, damals erster Mitarbeiter von Otto Nerz, mit dem klugen, schweigsamen Siffling führte: „Wer soll Mittelstürmer spielen, Otto?“„Ich wüßte einen, Herr Herberger!“, antwortete Siffling. „Jo, wen dann?“ – „Ei, nehme se mich a mol!“ Damals soll die berühmte „Breslauer Elf“ geboren worden sein. Über ihr erstes Spiel gegen Dänemark, in dem wir Pfingsten 1937 8:0 siegten, ist schon oft geschrieben worden. 5 Tore erzielte allein Otto Siffling, der unvergessene Mittelstürmer. Noch klingt mir meine eigene Stimme im Ohr, als ich damals im Rundfunk schilderte: „Kupfer leitet den Ball weiter an Siffling; der Waldhöfer stoppt, dreht sich blitzschnell um die eigene Achse, der Gegner ist getäuscht. Der dänische Torwart fliegt in die falsche Ecke. Instinktsicher, gleichzeitig wahrnehmend und handelnd, feuert Siffling ins Tor!“
Wir sprechen heute viel vom Wirbel wechselnder Positionen aller Stürmer in der Angriffsmethode, vom „Rochieren“, vom Steilspiel und kurzen Kombinationen, vom Flügelschlag und der direkten Vorlage – und wie die Bezeichnungen alle lauten. In Glasgow sah ich 1936, wie der Mittelstürmer Siffling bald im Flankenlauf in die Linie hineintauchte, bald mit faszinierendem Ballzug von Mann zu Mann – immerfort wechselnd im Tempo, in der Nuance, der Fahrt – flach am Boden und in verwirrend eingeschaltetem halbhohem Spiel. Wir verloren zwar in Glasgow. Aber vorher schon hat der Mittelstürmer Siffling bei unserem 2:1-Sieg gegen die starke Tschechoslowakei durch eines seiner schönsten Tore den Sieg errungen.
Und etwas später in Berlin, nach unseren Niederlagen gegen Schottland und Irland, errangen wir gegen den Weltmeister Italien ein 2:2. Beide Tore erzielte Siffling!
Vor einiger Zeit sagte Herberger, als wir über den Sturmführer der Nationalmannschaft sprachen: „Wir brauchen einen Mann wie Siffling. Er muss herangezogen werden, obwohl die Aussichten dafür schlecht sind.“
Er sagte also nicht: Szepan! Dabei haben die letzten Kämpfe unserer Nationalelf bewiesen, daß Fritz Walter in der ihm eigentümlichen Originalität eine Verwandtschaft mit der Szepans in seinen größten Tagen zeigt. Und trotzdem meint Herberger: „Ein Mittelstürmer wie Siffling“, weil er eben weiß, wessen wir in der augenblicklichen Situation am meisten bedürfen. Nach dem Sieg in Istanbul stellte er erneut fest, daß die Besetzung auf dem „Verbinderposten“ noch nicht ideal sei. Beide Spieler dort vergessen zu leicht, daß es eine ihrer wichtigsten Aufgaben ist, den Versuch des Gegners zu stören, von der Läuferreihe aus sein Spiel zu machen. Sicherlich denkt er daran, daß Fritz Walter eigentlich ein mit solchen Aufgaben zu betrauender „Verbinder“ ist, dessen Radius und dessen Möglichkeiten aus der Veranlagung und der Kraft eines großen Stürmers heraus befruchtend wirken. Der kluge Trainer kennt aber auch den Effekt, der von einem Mann ausgeht, der den Angriff im gegnerischen Strafraum in eine undurchsichtige Agilität hinein verzaubert, der dabei ein „Vollstrecker“, ein Schütze, ein zum überraschenden Sologang fähiger Mittelstürmer ist, wie Siffling einer war.

aus: Klingen, Dr. Helmut: 50 Jahre SV Waldhof Mannheim. Festschrift zum 50 jährigen Jubiläum des S. V. Waldhof 07 e V., Heidelberg [1957], S. 80-84