Im Fokus: Waldhof und Luzenberg

Tanja Vogel, Curt-Engelhorn-Stiftung für die Reiss-Engelhorn-Museen

„Seit ihrer Gründung im Jahre 1884 ist die Zellstofffabrik Waldhof eng mit der Geschichte der Stadt Mannheim verbunden. Sie hat den Namen eines Vorortes der alten kurfürstlichen Residenz zu einem in aller Welt bekannten und anerkannten Begriff für die Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft gemacht.“1
Unüberhörbar klingt in diesem Zitat des Heimatbuchs der Gemeinden Mannheim-Käfertal und Mannheim-Waldhof die Euphorie und Aufbruchsstimmung der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts und damit jener Zeit wenige Jahre nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs an. Rückblickend erscheint jedoch die Zeitspanne zwischen der so genannten Gründerzeit und den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts nicht so frei von Makeln.

Dieser Artikel gibt einen Einblick in Geschichte und Alltag von Waldhof und Luzenberg, um damit ein möglichst plastisches und facettenreiches Bild der Lebensverhältnisse zu Zeiten des Fußballers Otto Siffling (1912-1939) und seiner Familie zeichnen zu können. Dem Spieler des „SV Waldhof“ – deutscher Nationalspieler und Olympiateilnehmer – war kein langes Leben beschieden. Er starb bereits in jungen Jahren an einer Rippenfellentzündung.
Otto Siffling wurde in der Hubenstraße 18 „auf dem alten Waldhof“ geboren und wuchs in der Otto-Siffling-Straße 3 – nach ihm benannt seit 1977 – auf. Als eines von fünf Kindern begann er 1927 eine Modellschreiner-Lehre bei „Benz & Co.“ Spätestens seit den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts führte sein Vater einen Kiosk, wo man von Petroleum über Zigaretten bis hin zu Fleisch alles für den täglichen Bedarf bekommen konnte. So kann man davon ausgehen, dass Otto Sifflings Familie letztendlich ein bescheidenes Leben führte.
Im Jahr 1895 zählte der Waldhof ca. 3.540 Einwohner, 1910 bereits über 8.400, 1925 über 12.400 und im Sterbejahr des Fußballers 1939 über 12.800 Einwohner.2 Das Wachstum der Bevölkerung im Stadtteil Waldhof, ebenso wie die damit verbundenen sozialen, gesellschaftlichen und politischen Probleme, die es zu bewältigen galt, weisen auf die bemerkenswerte Zunahme der Industriegründungen und -niederlassungen in Waldhof und Luzenberg, beziehungsweise dem angrenzenden Stadtteil Sandhofen hin. „Zur Schaffung des benötigten Wohnraums entfaltete sich eine lebhafte Bautätigkeit, die wieder vielen Arbeitern Brot und Lebensmöglichkeiten bot.
Es entstanden neue Straßenzüge mit Wohn- und Geschäftshäusern, die auf dem ehemals unfruchtbaren Sandboden eine „Heimat“ für viele wurden.“3 Diese Textstelle aus dem bereits zitierten Heimatbuch benennt nur eine Seite der Medaille, auch wenn sie aus „ihrer Zeit heraus gedacht“ verständlich erscheint.

Walter Pahl, der in diesem Artikel vielfach zitiert wird, schreibt in einem Beitrag im mehrbändigen Werk „Mannheim vor der Stadtgründung“: „Die badische Revolution von 1848/49 war vorbei und die preußischen Besatzungen 1850 abgezogen, als Luzenberg und Waldhof, zunächst für Käfertal und damit nach dessen Eingemeindung auch für Mannheim, eine außerordentliche Entwicklung erfahren sollten. Der bisher weitgehend unfruchtbare Boden wurde zu einer von der Industrie geprägten Zone. […] Auf der Suche nach einem geeigneten Gelände ergaben sich für den Konzern St. Gobain auf dem Luzenberg einmalig gute Standortvoraussetzungen. […] Die Nähe zur aufstrebenden Stadt Mannheim, die mit ihren umfangreichen Hafenanlagen noch lange Endpunkt der Rheinschifffahrt war, dürfte eine große Rolle gespielt haben, denn die unmittelbare Lage am Rhein ermöglichte einen besonders günstigen Transport von Schmelzsand, Holz und Kohlen, ebenso […] eigenen Warentransport. Am Platz vorhanden waren auch die in großen Mengen erforderlichen feinen Sande und der für die Glasproduktion benötigte Kalk. […] Lediglich das benötigte Fachpersonal war vor Ort nicht vorhanden. Die badische Regierung genehmigte großzügig nicht nur den Bau einer Fabrikanlage, sondern gestattete auch, dass das erforderliche und erfahrene Personal aus Frankreich mitgebracht wurde. Die Konzession der Staatsregierung des Großherzogtums Baden war lediglich mit der Auflage verbunden, am Sitz der Niederlassung für die Mitarbeiter, die überwiegend aus dem Elsass stammten, genügend Wohnungen zu errichten.“4

Die Spiegelfabrik wurde mit dem ersten Spatenstich am 11. Juli 1853 Teil der Geschichte Luzenbergs und Waldhofs. „Durch Kaufverträge vom 19. Juni 1853 mit der Gemeinde Käfertal über ein Waldgebiet am Rheinwäldchen, den Erwerb des ehemaligen Guts Waldhof am 21. Juni, sowie einen Tag später des Guts Luzenberg und durch Zukäufe von anderen Grundeigentümern erwarb die Manufactures de Glaces et de Verres de St. Quirin ein außerordentlich großes Areal […] Eine Fusion mit der Manufaktur in St. Gobain war schon seit 1829 im Gespräch und stand kurz vor dem Abschluss.“5 Bereits am 18. Oktober 1854 begann die Produktion mit dem Guss von Roh- und Spiegelglas. Außerdem entstand die so genannte Spiegelkolonie, bestehend aus 19 Wohnzeilen mit 346 Arbeiterwohnungen mit Wohnflächen zwischen 27 und 44 Quadratmetern – damals vorbildlich und fortschrittlich, heute undenkbar. Bis zum Ersten Weltkrieg wohnten die Betriebsangehörigen in der Spiegelkolonie mietfrei.

Besser ausgestattete und vor allem geräumigere Wohnungen gab es in anderen Gebäuden für Meister, Beamte und die Direktion der Manufaktur; letztere bezog standesgemäß eine Villa in einer Art Parkanlage. Alsbald wohnten bereits 450 Arbeiter mit Familien mit einer zumeist großen Zahl an Kindern in der Spiegelkolonie. Man zählte bereits annähernd die doppelte Zahl der Beschäftigten, bevor nach dem Krieg 1870/71 auch immer mehr Deutsche in der „Spiegel“ eine Beschäftigung fanden. Zur Spiegelkolonie zählten unter anderem ein betriebseigener Kindergarten, eine Schule mit Turnhalle, eine Nähschule für Mädchen, eine Schwesternstation mit Hebamme, ein eigener Arzt, Kantine, Backhäuser, Konsumladen, Gaststätte und eine evangelische sowie eine katholische Kirche.
Ein Bad stand in der Fabrik zur Verfügung, denn die Wohnblocks verfügten über keinen eigenen Sanitärbereich. So lag der Abort für mehrere Parteien zu Anfang auch im Nutzgarten, bzw. in den Kleintierställen, die zu jeder Wohnung gehörten und eine gewisse Selbstversorgung der Familien der so genannten „Spiegler“ garantieren sollten. Bereits 1857 war eine werkseigene Unfall-, Kranken- und Pensionskasse ins Leben gerufen worden. Die Werksleitung legte Wert auf Identifikation der Bewohner mit der Manufaktur und förderte das Zusammengehörigkeitsgefühl. Doch sei hierbei nicht vergessen, dass diese Form des „eigenen Dorfes und der Betriebsnähe“ zumindest für die heutige Zeit unakzeptable Kontrollmöglichkeiten der Bewohner der Spiegelkolonie schuf: „Das Werk beschäftigte einen eigenen „Fabrikpolizeidiener“, der seine „Rapports“ bei der Direktion ablieferte, worauf dann die Strafen, meist Geldstrafen, festgelegt wurden. Vom Anfang des Jahrhunderts noch berichten ehemalige Bewohner, daß jeden Samstagnachmittag der Lehrer, der Pfarrer und der Direktor durch die Straßen gegangen seien, um zu kontrollieren, ob nach 18 Uhr noch Kinder draußen waren. Der Direktor hat auch mal eine der fabrikeigenen Fußmatten vor der Wohnungstüre hochgehoben, um zu sehen, ob darunter gekehrt war, oder er hat die Wohnungen selber inspiziert.“6 Nur die Direktion besaß für das Werkstor, welches im Sommer um 22.00 Uhr und im Winter um 20.00 Uhr geschlossen wurde, einen Schlüssel.
Der Regelarbeitstag der „Spiegler“ betrug 12 bis 14 Stunden. Drei Pausen von insgesamt zwei Stunden sollten die Arbeitszeit unterbrechen. Auf dem Gelände der Fabrik befand sich ein Wäldchen, das zur Erholung diente. Auch die Freizeit sollte also in der Spiegelkolonie verbracht werden. Kleintierzucht- und Sportvereine, die zum Teil heute noch existieren, haben ihren Ursprung in dieser Zeit.

Während des Ersten Weltkriegs kam das Werk als „Feindeigentum“ unter Zwangsverwaltung. Die deutschen Zwangsverwalter erhoben nun auch Mieten für die Wohnungen. 1917 kam es sogar zu einer Zwangsversteigerung der Manufaktur. 1921 konnte „St. Gobain“ jedoch seine Unternehmeranteile wieder zurückkaufen. Ab 1930 stand die Produktion von qualitativ hochwertigem Gussglas gänzlich im Vordergrund, und die Spiegelglasherstellung wurde aufgegeben. Rund 1.550 Personen wohnten zu dieser Zeit in den werkseigenen Wohnungen.

„Der berühmteste Sohn der Spiegelkolonie auf dem Luzenberg war Seppl (Josef) Herberger, der legendäre Trainer der deutschen Fußball-Nationalmannschaft, auch „Held von Bern“ genannt. Er kam 1897 in der Rue de France 171 zur Welt. […] Von der ersten Arbeitersiedlung in Mannheim ist nur noch eine einzige Wohnzeile in der ehemaligen Rue de St. Quirin, jetzt Spiegelstraße, übrig geblieben. Hier wohnte Herberger für einige Zeit mit seinen Eltern.“7 An diesem Wohnblock befindet sich eine Gedenkplatte für Sepp Herberger. Im so genannten „Schlammloch“ hatte der 1907 gegründete Fußballverein „SV Waldhof“ bis 1911 seine Spielstätte.

Bereits zuvor war – unterstützt von der Direktion der Spiegelmanufaktur – der „Turnverein 1877“ ins Leben gerufen worden. 1921 ging er für kurze Zeit mit dem „SV Waldhof“ eine Verbindung ein, entschied sich dann jedoch wieder für die Selbstständigkeit. Man turnte bei warmen Temperaturen im Freien, im Winter in einer von der Fabrik bereitgestellten Halle, später in der Turnhalle der Luzenbergschule und 1929 in einer in Eigeninitiative umgebauten Lagerhalle im Hafengebiet. Auch der Kleintierzuchtverein, „Die Goggelrobber“, wurde 1900 auf Werksgelände von „St. Gobain“ gegründet.

Grundsätzlich lässt sich sagen, dass sich in den Stadtteilen Waldhof, Luzenberg, in Sandhofen und auch in der Gartenstadt von Beginn an eine lebhafte Vereinskultur entwickelte. Der 1922 gegründete „Männerchor Gartenstadt“ erlangte regelrecht regionale Berühmtheit mit drei Blumenkorsos in den 20er Jahren. 1908 wurde der Verein „Pasquale Villarie“ von Italienern gegründet. „In der Sandhofener Straße 51-53 befand sich einer der Mannheimer Arbeitersportvereine der Weimarer Zeit, der „Wassersportverein Vorwärts“. Er bildete eine Ausnahme, denn gerade Ruderclubs waren aus Kostengründen normalerweise bürgerliche Vereine. In der Nazizeit wurde daraus ein SA-Heim gemacht, heute befindet sich wieder ein Wassersportclub hier.“8

Die Ansiedlung der „Spiegel“, welche hier aufgrund ihrer besonderen Stellung für die Geschichte der Stadtteilentwicklung von Luzenberg und Waldhof ausführlicher erläutert wurde, bildete den Auftakt für eine Vielzahl weiterer Fabrikniederlassungen. Dies gilt für den „Verein Chemischer Fabriken“, der 1869 am Altrhein ein Zweigwerk zur Produktion von Anilin mit 390 Arbeitern errichtete, das 1888 jedoch stillgelegt wurde und 1890 an die bereits im Jahr 1877 gegründete „Chemische Fabrik C. Weyl“ überging. 1882 siedelte sich „C.F. Boehringer & Söhne“ an, die – ursprünglich aus Stuttgart kommend – zuvor ihre Fabrik im Jungbusch unterhielten. Die „Zellstofffabrik Waldhof“ kam ebenfalls in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts hinzu, die Tochterfabrik „Papyrus AG“ wurde benachbart angesiedelt und vereinigte sich dann später mit dem eigentlichen Stammunternehmen. Die “Zellstoff” ist auf Sandhofer Gemarkung dicht an die Grenze gebaut worden und bekam wegen des Bahnanschlusses den Namen des Stadtteils Waldhof. „Entscheidende Standortfaktoren waren neben dem niedrigen Grundstückspreis das Vorhandensein von reinem Grundwasser und ein großer Einzugsbereich von Arbeitskräften aus den nördlichen Gemeinden. […] Sehr günstig wirkte sich die Standortwahl am Floßhafen aus. Schon 1890 arbeiteten hier über 1.500 Menschen, […] Die Fabrik galt in der Mannheimer Bevölkerung lange Zeit als Knochenmühle, in die Leute gingen, die durch viele Überstunden möglichst schnell Geld verdienen wollten.“9 Dies schreibt der ebenfalls in diesem Artikel mehrfach zitierte Autor Peter Koppenhöfer in seinem Beitrag zur Publikation „Mannheim zu Fuß“, die zu Anfang der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts erschienen ist.

Die „Eisen- und Metallgießerei Georg Schmitt & Söhne“ hatte sich 1889 angesiedelt. 1896 nahmen die „Süddeutsche Drahtindustrie AG“, die „Drais-Fahrradwerke“ und die „Strebelwerk AG“ ihren Platz auf dem Waldhof ein. 1897 kam die „Süddeutsche Juteindustrie AG“ – im Volksmund die „Knoddel“ genannt – hinzu. Unter anderem zeugen zahlreiche Straßennamen noch heute von deren Existenz. „Die Werkssiedlung „Jutekolonie“, nach der Spiegel-Kolonie die größte in Mannheim, liegt am heutigen Ortseingang von Sandhofen, östlich der Sandhofener Straße. [...] Das Mädchenwohnheim ist ein in seiner Art in Mannheim einmaliges Gebäude, das die verschiedensten Nutzungsfunktionen hatte, außerdem ist es ein Haus, das eindrucksvoll Frauengeschichte repräsentiert. […] Im Oberstock lagen neben den Beamtenwohnungen die Unterkünfte der Schwestern. Nur im Südteil und im Dachgeschoß befanden sich ursprünglich die Unterkünfte für ledige Arbeiterinnen. Das waren keine richtigen Zimmer, sondern Säle, die durch Querwände in Abteile für je zwei Frauen abgetrennt waren, wobei dann Vorhänge die einzelnen Abteile abschlossen. In der Anfangszeit haben hier unter der Aufsicht der Schwestern 350 Frauen gewohnt, Frauen verschiedener Nationalität.“10

Die „Armaturenfabrik Bopp & Reuther“ zog 1897 von der Ne­ckarstadt nach Waldhof. 1908 etablierte sich zudem die Firma „Benz & Co“ auf dem Waldhof – jene Firma, in welcher Otto Siffling eine Lehre als Modellschreiner beginnen sollte. Hinzu kamen einige kleinere industrielle und gewerbliche Betriebe wie zum Beispiel die „Vereinigte Chininfabrik Zimmer & Co“., das „Dynamidon-Werk Engelhorn & Co.“, die „Drahtwarenfabrik Germania“, die „Galenus GmbH“ zur Herstellung pharmazeutischer Präparate, „Dr. Schmitz & Co.“ zur Herstellung künstlicher Riechstoffe oder „Klebs & Hartmann“ für Reparaturen elektrischer Maschinen.

Der Bezirk Waldhof/Luzenberg wurde damit zum „bedeutendsten industriellen Schwerpunkt. […] Auf 1.000 Einwohner im Stadtteil kamen 1.686 Beschäftigte, das heißt, es kamen zu den Einwohnern viele Arbeitskräfte aus anderen Stadtgebieten und dem Umland hinzu.“11 Die Riedbahn half, Arbeiter von außerhalb zu ihren Arbeitsstellen zu bringen und Güter zu transportieren, seit 1907 hatte Waldhof zudem einen Straßenbahnanschluss. Das Anwachsen der Industriebetriebe und damit die Zahl der Arbeiter und ihrer Familien führte zu einer enormen sozialen Umschichtung, die nicht ohne Spannungen ablaufen konnte. Dabei ist zu beachten, dass Waldhof bis Ende 1896 zu Käfertal gehörte. Durch das Anwachsen der Arbeiterschaft geriet die bäuerliche Bevölkerung Käfertals in die Minderheit, es gab zwischen der angestammten Käfertaler und der Waldhofer Einwohnerschaft große Einkommens- und auch soziale Unterschiede. Der Ruf auf dem Waldhof nach einer Eingemeindung zur Stadt Mannheim war daher unüberhörbar geworden. Am 1. Januar 1897 wurde Waldhof gemeinsam mit Käfertal nach Mannheim eingemeindet.
Ausdruck der mit dem Anwachsen von Stadtteil und Bevölkerung einhergehenden, unbedingt erforderlichen Versorgungsleistungen sind der Wasserturm in Luzenberg, 1908 erbaut, die Luzenbergschule, die 1912 bis 1914 errichtet wurde und mit dem Wasserturm heute noch eine Gebäudeeinheit bildet, die 1907 erbaute katholische Kirche St. Franziskus und die evangelische Pauluskirche, die 1908 eingeweiht wurde. Die Standorte der Kirchen stehen zudem für eine notwendig gewordene Erweiterung des Stadtteils nach Osten über die Gleise der Riedbahn hinaus. Die einzelnen Etappen der Stadtteilerweiterung sollen hier jedoch nicht weiter behandelt werden. Stellvertretend sei an dieser Stelle das wohl eindrucksvollste neue Siedlungsgebiet genannt: die Mannheimer Gartenstadt.

Am 26. August 1910 war von 39 Personen die „Gartenvorstadt-Genossenschaft“ gegründet worden. Sie war eine Reaktion auf die ungelösten Wohnungsprobleme jener Zeit: Der Wohnraum war vielfach sehr beengt. Zu den eigentlichen Bewohnern kamen häufig noch zahlende Kost- oder Schlafgänger hinzu. Schlafstellen wurden im Wechsel von Tag und Nacht an andere Personen vermietet, womit nicht nur gesundheitliche Probleme, sondern auch – bei Schlafgängern zweierlei Geschlechts – sittliche Probleme entstehen konnten. „Eine im Jahr 1874 erlassene Badische Gesundheitsverordnung verbot daher die Aufnahme von Schlafstellennehmern zweierlei Geschlechts „im selben Hause“ (gemeint war die Wohnung) und gebot eine Meldepflicht der Schlafstellengeber.“12 „Eine allgemein aufgetretene Wohnungsnot durch die sich rasch vermehrende Bevölkerung bestand jedoch nicht nur in der fehlenden Quantität und Qualität, sondern war auch durch steigende Mietpreise bestimmt. Nach dem Ergebnis einer 1927 durchgeführten Reichswohnungszählung lebten 55,2% der damals 248.120 Mannheimer noch immer in „überfüllten Wohnungen“. Dies nicht nur, weil Wohnraum knapp, sondern auch, weil er sehr teuer war. „Überfüllt“ bezeichnete man eine Wohnung dann, wenn auf einen Wohnraum mehr als eine Person entfielen. In 11,7% der Fälle lebten die Menschen sogar unter noch schlechteren Bedingungen.“13 Viele Fabrikansiedlungen hatten sich die „Spiegel“ zum Vorbild genommen und ließen Werkswohnungen beispielsweise in Form von Doppelhäusern oder auch Wohnblocks mit Nutzgärten und Kleintierstallungen bauen.

Doch nicht immer fanden diese Wohnverhältnisse das ungetrübte Einverständnis der in den Industriebetrieben Beschäftigten und ihrer Familien. „Auf dem nördlichen Firmenareal [von Bopp & Reuther] stehen die 1896-97 erbauten Mietskasernen von Bopp & Reuther, sechs Hausreihen mit 108 Wohnungen. Die Arbeiter fanden es anscheinend nicht besonders erstrebenswert, innerhalb des Fabrikgeländes zu wohnen; in einer Veröffentlichung im Jahre 1921 wurden sie getadelt: „Die Arbeiter von Bopp & Reuther glaubten sich, solange es auch anderswo noch Wohnungen gab, in ihrer Freiheit beengt, wenn sie in die Siedlung zogen. So mußte man, um ein Leerstehen zu vermeiden, die Wohnungen an andere Arbeiter vermieten, und zwar zu 25 M im Monat. Nachdem aber der Krieg die große Wohnungsnot gebracht hatte, behaupteten plötzlich die Arbeiter des Werkes, das seien ihre Wohnungen und duldeten keine fremden Arbeiter mehr darin. Es ist dies ein lehrreiches Beispiel dafür, wie wenig verständig und reif für die Fragen des Wohnungswesens die Arbeiter sind.“ Wer einen Blick auf die tristen Wohnfabriken wirft, versteht das Zögern der Bopp & Reuther-Arbeiter.“14 Das polemische und tendenziöse Zitat aus einer Veröffentlichung des Jahres 1921, integriert in einen Beitrag von Volker Keller in der Publikation „Mannheim zu Fuß“ aus dem Jahr 1991, ist Ausdruck der höchst angespannten Situation der Zeit um 1920.

Folgendes Zitat „von Amtswegen“ sei zum besseren Verständnis der damaligen politischen und gesellschaftlichen Situation in voller Länge wiedergegeben: „Aus einer „Bekanntmachung der Polizeidirektion Mannheim betreffend die Fabrikbesetzungen durch die Arbeiter, 21. März 1920“: „Die Polizeidirektion Mannheim hat unterm Heutigen den Arbeitern der Fabriken: Bopp & Reuther, Armaturenfabrik Waldhof / Benz & Cie., Rheinische Automobil- und Motorenfabrik AG Mannheim, Abteilung Automobilbau / Bergin-Anlage Rheinau / Hommelwerke Mannheim / Winterwerb, Streng & Co. Mannheim Käfertal – die von den Unternehmern als geschlossen erklärt worden sind, folgendes mitgeteilt: Nachdem Arbeiter einiger Fabriken Mannheims gegen den Willen der Unternehmer in die Fabriken eingedrungen sind und sich dort aufgehalten haben, nachdem Gewalttätigkeiten gegen Personen und Sachen verübt und Entwendungen von Fabrikeigentum angedroht wurden, machen wir auf die strafrechtlichen Folgen solcher Handlungen nachdrücklich aufmerksam: Bei Hausfriedensbruch (§ 123, 124 RStrGB) Gefängnis bis zu drei Monaten oder Geldstrafe bis zu dreihundert Mark bzw. Gefängnis bis zu einem Jahr oder Geldstrafe bis zu tausend Mark, bei Landfriedensbruch (§ 124, 125 RstrGB) Gefängnis von einem Monat bis zu zwei Jahren bzw. Gefängnis nicht unter drei Monaten, bei Freiheitsberaubung (§ 239 RStrGB) Gefängnis oder Geldstrafe bis zu zweitausend Mark, bei Nötigung (§ 240 RStrGB) Gefängnis bis zu einem Jahr oder Geldstrafe bis zu sechshundert Mark, bei Diebstahl (§ 242 RstrGB) Gefängnis, bei bewaffnetem Diebstahl (§ 243 Ziffer 5 RstrGB) Zuchthaus bis zu zehn Jahren, […] Im Hinblick auf die strafrechtlichen Folgen der Gesetzesverletzungen fordern wir die Arbeiterschaft auf, den Betrieben fernzubleiben, solange der Betrieb durch die allein verfügungsberechtigten Unternehmer für geschlossen erklärt ist.“15

Einige weitere Zahlen dokumentieren die Not der Arbeiter und ihrer Familien: Von 1914 bis 1921 war der Preis für ein Pfund Brot von 0,12 M auf 1,80 M gestiegen, für Kartoffeln von 0,09 M auf 2,00 M, für Fleisch von 0,80 M auf 18,00 M, für Butter von 1,40 M auf 44,00 M, für Fisch von 0,30 M auf 12,00 M, für Kaffee von 1,60 M auf 68,00 M und zum Beispiel für Milch pro Liter von 0,20 M auf 5,00 M. Der Zentner Holz kostete 1921 30,00 M und war damit seit 1914 über 29,00 M teurer geworden, ähnlich verhielt es sich mit einem Zentner Kohle.
Vergleicht man damit nun den Anstieg der Durchschnittslöhne von 1914 bis 1921, so stiegen diese zwar – aufgrund der Inflation – um das 21fache an, die Preise für Lebensmittel jedoch schossen gleichzeitig um mehr als das 33fache in die Höhe.
In Baugewerbe, Bekleidungsindustrie, Chemie- und Papierindustrie, Holz-, Leder-, und Metallindustrie, Lebensmittelindustrie sowie Verkehrsgewerbe lag der Durchschnittslohn pro Stunde 1914 zwischen 0,50 und 0,60 M, im Jahre 1921 war er auf 11,40 bis 11,50 M angestiegen.16

Das Ende des Ersten Weltkriegs hatte schwere Erschütterungen gebracht: Hungersnot, Arbeitslosigkeit, zunehmende Inflation, Streiks, die teils blutig niedergeschlagen wurden, Putschversuche und Attentate auf führende Politiker prägten das politische Klima in der ersten Hälfte der 20er Jahre in Deutschland. So schreibt Jutta Benz: „Nach dem Beginn der Revolution am 9.11.1918 bildete sich auch in Mannheim ein Arbeiter- und Soldatenrat. […] Am 11. November wurde bei den Firmen Benz und Lanz der Acht-Stundentag eingeführt. Auf der Versammlung der Arbeiter- und Soldatenräte Badens in Mannheim am 21. November 1918 wurde die badische Räterepublik beschlossen – vorerst noch ohne reale Konsequenzen. Am 22. Februar 1919 proklamierte der deutsche Metallarbeiterverband in Mannheim den Generalstreik, einen Tag später riefen KP-Anhänger die Räterepublik aus, doch die SPD und USPD standen der KP nicht zur Seite. Die Revolution von 1918/19 hinterließ vor allem in der Arbeiterschaft der Mannheimer Großbetriebe der Metallbranche deutliche Spuren einer politischen Spaltung. Denn Mannheim als größtes Industriezentrum Badens mit ca. 16,5% aller Arbeiter dieses Landes war auch das Zentrum der Arbeiterbewegung. Hier lebten ein Viertel der badischen SPD-Mitglieder, die Hälfte aller USPD-Mitglieder, ein Drittel der badischen Gewerkschafter und an die 300 KPDler. Erst der Kapp-Putsch im März 1920 schien die „feindlichen Brüder“ in einem Generalstreik wieder zu vereinen. In manchen Betrieben wurden revolutionäre Betriebsräte gewählt; einige Betriebe wurden vorübergehend geschlossen. Mit dem Streik von 1922 konnte die 46-Stunden-Woche verteidigt und ein neuer Manteltarif abgeschlossen werden. […]

Dem Anwachsen der faschistischen Bewegung – bereits 1922 hatte es in Mannheim einen Sprengstoffanschlag der NSDAP auf das Gewerkschaftshaus in Mannheim gegeben, und 1930 sprach Hitler auf einer Großkundgebung im Rosengarten – suchten die verschiedenen Strömungen der Arbeiterbewegung entgegenzuwirken.“17 Aufhalten ließ sich das NS-Regime damit nicht. Aber hier wurzelte der spätere aktive und passive Widerstand gegen dieses Regime: „Die Bewohnerstruktur des Mannheimer Nordens ist stark durch die Industrie und die dort beschäftigten Facharbeiter geprägt. Das hatte selbstverständlich auch politische Auswirkungen. Bei den Reichstagswahlen am 31. Juli 1932 erhielten im Stadtteil Waldhof bei einer Wahlbeteiligung von 83,3%, die KPD 34,5%, die SPD 32,8%, NSDAP 16,9%, Zentrum 10,9% der abgegebenen Stimmen. Besonders trat das politische Milieu in der Zeit von 1933-1945 in Erscheinung. Bei den Reichstagswahlen am 05. März 1933 bekam die KPD im Stadtteil Waldhof, einschließlich Luzenberg und Gartenstadt sogar 34,9% der abgegebenen Stimmen, die SPD 29,2%, das Zentrum 9,2% und die NSDAP 22,7%. Die Wahl war allerdings […] nicht mehr als frei zu bezeichnen. Verhaftungen und Entlassungen von politisch engagierten Betriebsräten aus ihren Betrieben konnten jedoch, wie aus den Wahlergebnissen zu ersehen ist, nicht alle Wähler einschüchtern.“18

Waldhof entwickelte sich in der Folge zu einem Schwerpunkt des Widerstands gegen die Nationalsozialisten in Mannheim und der Umgebung. „Mundpropaganda und Flugblätter, selbst gefertigte Zeitungen, die in der Gartenstadt im Hause Philipp Brunnemer (Sozialdemokrat) [...] hergestellt wurden, lösten im Mannheimer Norden 1941/42 eine große Verhaftungswelle aus, der zwei Prozesse vor dem Volksgerichtshof folgten. In der letzten Zeitung, die sich „Der Vorbote“ nannte, stand zu lesen: „Hitler hat den Krieg begonnen, Hitlers Sturz wird ihn beenden.“ Im 1. Prozess wurden 14 Personen, darunter Brunnemer, seine Tochter und der Schwiegersohn, Käthe und Alfred Seitz, zum Tode verurteilt. [...] Eine weitere Gruppe zum größeren Teil aus Waldhof/Luzenberg/Gartenstadt stammender Antifaschisten erhielt hohe Gefängnis- oder Zuchthausstrafen. Im 2. Prozess wurden noch einmal über 11 Männer und Frau Henriette Wagner Todesstrafen verhängt. Deren Hinrichtung fand am 24. Februar 1943 statt. Der Londoner Sender BBC unterrichtete die Weltöffentlichkeit über die Hinrichtungen und legte in den deutschsprachigen Sendungen Gedenkminuten ein. Die Widerstandsgruppe auf dem Waldhof wurde nach ihrem führenden Kopf, dem ehemaligen Landtagsabgeordneten der KPD, Georg Lechleiter, benannt.“19 Eine Gedenkplatte an seinem Wohnhaus in der Alten Frankfurter Straße 30 erinnert an Georg Lechleiter, ebenso eine Gedenkstätte in der Schwetzingerstadt. Es ist sicher nicht möglich, all die Opfer der Greuel des Naziregimes im öffentlichen Gedächtnis zu halten, doch sei hier stellvertretend für alle nicht Genannten noch Richard Jatzek namentlich erwähnt, wohnhaft in der Hanfstraße 10 in Sandhofen, aktiv im kommunistischen Widerstand. „Er versuchte 1934 die KP-Ortsgruppe wiederaufzubauen und wurde dann später Mitglied der Lechleitergruppe, der wichtigsten kommunistischen Widerstandsgruppe Mannheims in der Zeit des Zweiten Weltkriegs. 1942 wurde er verhaftet und am 24.2.1943 in Stuttgart hingerichtet.“20

Da der Fußballer Otto Siffling – wie bereits zu Anfang erwähnt – im Jahr 1939, dem Jahr des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs, mit nur 27 Jahren starb, wird auch in diesem Beitrag die Geschichte des Waldhofs und Luzenbergs nicht weiter als bis in diese Zeit hinein geschildert. Waldhof, der Name „eines Vorortes der alten kurfürstlichen Residenz,“ wurde, wie eingangs zitiert, „zu einem in aller Welt bekannten und anerkannten Begriff für die Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft.“ Doch darüber hinaus birgt der Wohnort Otto Sifflings eine Fülle an interessanter, wechselvoller und ergreifender Zeitgeschichte!

Literaturverzeichnis

Benz, Jutta: Die Arbeiterbewegung 1848–1945. In: Strümper, Wolfgang (Hrsg.): Mannheim zu Fuß. 15 Stadtteilrundgänge durch Geschichte und Gegenwart, VSA-Verlag, Hamburg 1991, S. 185–186.

Frey, Karl Dr.-Ing. und Klingert, Lorenz: Heimatbuch der Gemeinden Mannheim-Käfertal und Mannheim-Waldhof, Mannheimer Großdruckerei GmbH, Mannheim 1954.

Industriegewerkschaft Metall für die Bundesrepublik Deutschland, Verwaltungsstelle Mannheim (Hrsg.): Säumt keine Minute! Dokumente zur Geschichte der Arbeiterbewegung in Mannheim 1848–1949, bearbeitet von Brach, Wolfgang und Kleff, Fritjof, Edition Quadrat, Mannheim 1986.

Keller, Volker: Auf Dünensand gebaut. Waldhof-Ost, Gartenstadt, Käfertaler Wald, Schönau. In: Strümper, Wolfgang (Hrsg.): Mannheim zu Fuß. 15 Stadtteilrundgänge durch Geschichte und Gegenwart, VSA-Verlag, Hamburg 1991, S. 177–187.

Koppenhöfer, Peter: Auf den Spuren der KZ-Häftlinge. Luzenberg, Sandhofen, Blumenau. In: Strümper, Wolfgang (Hrsg.): Mannheim zu Fuß. 15 Stadtteilrundgänge durch Geschichte und Gegenwart, VSA-Verlag, Hamburg 1991, S. 147–175.

Pahl, Walter: Waldhof, Luzenberg und Gartenstadt. In: Probst, Hansjörg (Hrsg.): Mannheim vor der Stadtgründung. Die Mannheimer Vororte und Stadtteile, Teil II, Bd. 2, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, 2008, S. 167–199.

  • 1. Frey, Karl Dr.-Ing. und Klingert, Lorenz: Heimatbuch der Gemeinden Mannheim-Käfertal und Mannheim-Waldhof. Mannheim 1954, S. 221
  • 2. ebd. S. 233
  • 3. ebd.
  • 4. Pahl, Walter: Waldhof, Luzenberg und Gartenstadt. In: Probst, Hansjörg (Hrsg.): Mannheim vor der Stadtgründung. Die Mannheimer Vororte und Stadtteile, Teil II, Bd. 2, Regensburg, 2008, S. 168f
  • 5. ebd. S. 169
  • 6. Koppenhöfer, Peter: Auf den Spuren der KZ-Häftlinge. Luzenberg, Sandhofen, Blumenau. In: Strümper, Wolfgang (Hrsg.): Mannheim zu Fuß. 15 Stadtteilrundgänge durch Geschichte und Gegenwart. Hamburg 1991, S. 154f
  • 7. Pahl a.a.O., S.175
  • 8. Koppenhöfer a.a.O., S. 155
  • 9. ebd. S. 157
  • 10. ebd. S. 159f
  • 11. Pahl a.a.O., S. 179
  • 12. ebd. S. 181
  • 13. ebd. S. 183
  • 14. Keller, Volker: Auf Dünensand gebaut. Waldhof-Ost, Gartenstadt, Käfertaler Wald, Schönau. In: Strümper, Wolfgang (Hrsg.): Mannheim zu Fuß. 15 Stadtteil­rundgänge durch Geschichte und Gegenwart. Hamburg 1991, S. 177f
  • 15. Industriegewerkschaft Metall für die Bundesrepublik Deutschland, Verwaltungsstelle Mannheim (Hrsg.): Säumt keine Minute! Dokumente zur Geschichte der Arbeiterbewegung in Mannheim 1848–1949, bearbeitet von Brach, Wolfgang und Kleff, Fritjof. Mannheim 1986, S. 332
  • 16. ebd. S. 658
  • 17. Benz, Jutta: Die Arbeiterbewegung 1848–1945. In: Strümper, Wolfgang (Hrsg.): Mannheim zu Fuß. 15 Stadtteilrundgänge durch Geschichte und Gegenwart. Hamburg 1991, S. 185f
  • 18. Pahl a.a.O., S. 195
  • 19. ebd. S. 195
  • 20. Koppenhöfer a.a.O., S. 162